Das Tanzfest

Ron sagt, er freue sich auf die Technoparty heute Abend. Sie finde im Club „Kauz“ in Zürich statt und er könne es kaum erwarten, weil jemand Besonderes auflege. Valentina, das Mädchen, in das er verliebt ist. Er möchte sie endlich ansprechen, aber er weiss nicht, wie er das anstellen soll. „Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie so etwas geht. Soll der Mann die Frau ansprechen? Oder soll ich sie einfach antanzen, wenn sie mit Auflegen fertig ist? Kannst du mir vielleicht helfen?“ Leider bin ich viel zu schüchtern, aber ich habe eine Idee. Vor kurzem hatte ich in der Uni ein Seminar über Wandmalereien aus dem Mittelalter. Ein Motiv zeigt eine Tanzszene. Soweit ich mich erinnere, hatten die Männer beim Fest Erfolg bei den adligen Frauen. Vielleicht bringt uns das auf eine Idee, wie Ron bei Valentina landen kann.

Wir sind an der Limmat, also ganz in der Nähe des Hauses, wo sich das Wandgemälde befindet. Wir müssen nur in die Altstadt abbiegen, dann links zur Rosengasse und den Hügel hinaufgehen, in die Brunngasse. Im Mittelalter waren die Gassen rund um die Brunngasse von Juden bewohnt, diese Gasse hiess damals Judengasse.

Ich kann schon das rot gestrichene Haus sehen. Da werden wir die Wandmalereien sehen. Ron staunt über die rote Fassade und macht ein Foto davon.

Oberhalb der niederen Holztüre sind steinerne Ornamente angebracht. Ron murmelt die goldenen Lettern vor sich hin, die auf dem Schild stehen: Zum Brunnenhof. Ich drücke rasch auf eine Klingel neben einem Namensschild und hoffe, dass sie uns hereinlässt. Tatsächlich, es surrt und ich drücke gegen die schwere Holztür. Wir treten ins Haus.

Im Haus ist es kühl, es riecht nach Feuchtigkeit und Steinwänden. Wir steigen die Holztreppe in den ersten Stock.

An der Wand im Gang sehen wir hinter einer Scheibe die Wandzeichnung. Das Bild ist schon etwas verblasst, die Konturen der Figuren sind nicht mehr genau zu erkennen. Deshalb suche ich ein Foto aus dem Internet, welches die gezeichnete Version der Abbildung zeigt.

Das Tanzmotiv nach einer Zeichnung von Beat Scheffel

Das Tanzmotiv nach einer Zeichnung von Beat Scheffel

Auf dem Bild ist eine Tanzszene zu sehen. Es tanzen abwechselnd Männer und Frauen im Kreis zur Musik zweier Spielleute. "Schau mal", sagt Ron, "die Leute sehen alle so glücklich und zufrieden aus. Sie tanzen ausgelassen. Einige Männer hopsen in die Luft. Auch die Frauen bewegen sich zur Musik, die Dritte von links verrenkt sich richtig. So fröhlich habe ich mir das Mittelalter nicht vorgestellt. In meiner Vorstellung, gab es nur Ritter, die gekämpft, und Damen, die in kalten Schlössern gesessen haben. Aber die Art, wie die Figuren tanzen, kommt mir wie der Tanzstil vor, den man an einer früher Technoparty tanzte.

In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ist durch die Verschmelzung mehrerer Stilarten der elektronischen Tanzmusik die Musikrichtung Techno entstanden. Unter diesem Sammelbegriff, der für verschiedene Stilrichtungen der elektronischen Musik steht, haben sich viele Subarten entwickelt. Zum Beispiel der Hardcore Techno, eine sehr harte und schnelle Techno-Musikvariante, die ungefähr ab 160 Schlägen pro Minute gespielt wird. Sie ist 1990 in Deutschland entstanden. Bei diesem Tanzstil kickt oder hüpft man in die Luft, ein wenig wie auf der Wandzeichnung des Mittelalters.

Aus den Anfängen der elektronischen Musik mag ich lieber den Detroit Techno, der stark am Chicagoer Acid House orientiert ist. Er ist in den 1980er in Detroit entstanden, nicht so schnell wie der Hardcore Techno und bedient sich Elementen des Funks, Electro Funks und der House-Musik.

Für die Jugend in den 80ern und 90ern war Techno eine musikalische Revolution. Es kamen Geräusche und Laute vor, die man vorher noch nie in der Musikgeschichte gehört hatte. Die Leute trugen futuristische Outfits, der Exzess wurde zelebriert und es ging darum, Grenzen zu sprengen.

Heutzutage ist die Musik, die in den Clubs gespielt wird, langsamer und weniger hart als in den 80ern und 90ern. Valentina wird heute wahrscheinlich House auflegen, das wird zwischen 120 und 130 Schlägen pro Minute gespielt und man hört auch traditionelle Instrumente oder deren Samples. Mir scheint es, als sei die rebellische Komponente etwas abgeflacht. Es hat sich viel verändert seit der ersten Street Parade in Zürich 1992. Elektronische Musik wird nun in fast allen Clubs gespielt, er wurde kommerzialisiert, Techno ist nun sogar Kulturerbe in der Schweiz.

Auch der Tanzstil ist sanfter, aber auch individueller geworden. Jeder kann sich bewegen, wie er möchte. Ich zum Beispiel mache auch Moves aus dem Hiphop und kicke nicht nur in die Luft.

Auf der einen Seite ist das befreiend, dass es keinen vorgegebenen Tanzstil gibt und dass man nicht paarweise tanzen muss. Aber andererseits ist es schwierig, jemandem näher zu kommen. Gerne würde ich auch die Hand von Valentina halten, wie es die Tanzenden auf dem Bild tun“, sagt Ron. "War es im Mittelalter üblich, dass alle nebeneinander tanzen, konnte man das nicht alleine tun?"

„Die Mehrzahl der Tänze im Mittelalter fanden in Gruppen von mehr als vier Teilnehmenden statt. Einen Reigen tanzen nennt man das. Reigen konnten in dreifacher Weise ausgeführt werden: als geschlossener Kreis, als offener Kreis und als ausgezogene Reihe. Hier auf der Wandmalerei sehen wir also eine ausgezogene Reihe.

Und du hast Recht, Ron, die Leute im Mittelalter konnten nicht tanzen, wie sie gerade Lust hatten. Das gemeinsame Schwingen und Hüpfen in der Runde entstand aus der gruppendynamischen Kraft.

Sieh dir die Kleider der Figuren genauer an.

Man sieht, dass sie sich für ein Fest gekleidet haben. Die Frauen tragen lange Kleider und Schnabelschuhe, einige haben riesige Schlapphüte oder Schleier an, auch Kränze haben sie ihm Haar. Die Männer tragen zum Teil bestickte Hosen, sie haben Hüte an und Stiefel. Sogar Schwerter haben sie beim Tanz umgeschnallt.“

"Auch an den frühen Rave-Partys hat man sich ausgefallen angezogen. In einem Online-Magazin habe ich Bilder gesehen, auf denen Raver der 90er abgelichtet sind.

Foto von Michael Tullberg, veröffentlicht im zeitjung-Online-Magazin.

Foto von Michael Tullberg, veröffentlicht im zeitjung-Online-Magazin.

Hauptsache schräg lautete wohl die Devise.

Nach 1992 entwickelten sich erste kommerzielle Mode-Trends. Die Bekleidungsindustrie hat die Clubwear aufgegriffen. Deshalb vereinheitlichte sich die Kleidung der Partygänger. Mitte der 1990er hatten viele Schlaghosen sowie weisse Handschuhe an und Schnuller und Trillerpfeifen dabei. Heute ist kein einheitlicher Kleidungstil bei den Leuten mehr zu finden, er ist heterogen geworden. Die Leute sind an Partys von schick bis Hippie-mässig, sportlich oder elegant angezogen."

„Im Mittelalter konnte man sich keine solchen Freiheiten herausnehmen. Vor allem wenn man zur höfischen Gesellschaft gehört hat, gab es strenge Regeln. Doch das Tanzmotiv der Wandmalerei zeigt nicht, wie es im Mittelalter wirklich war. Man hat beim Tanz keine Waffen getragen und dass Frauen mittanzen, war sehr ungewöhnlich. Auf dem Bild handelt es sich bei den Männern um Bauern und bei den Frauen um höfische Damen. Normalerweise kam es nicht zur Verbindung der sozialen Schichten, diese wurden eher gegeneinander ausgespielt. Im Mittelalter gab es sogenannte Bauernwirtschaften: Bei solchen Veranstaltungen sollten Repräsentanten des rustikalen Lebens kontrastierend zur höfischen Etiquette auftreten.

Neidhart war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter des Mittelalters. Als Nachwirkung seines Erfolgs sind viele Zeichnungen entstanden, die Szenen seiner Dichtung abbilden. Sein Name wurde zur Bezeichnung einer speziellen Literaturgattung, in der die höfische Welt mit der Welt der Bauern in Konflikt gerät und schliesslich über sie den Sieg trägt. In seinen Liedern macht sich Neidhart über die Kleidung, Schwerter und Tanzsprünge der Bauern lustig, die den Adligen nacheifern und sich dabei, ohne es zu merken, lächerlich machen. Er hat die Bauern verachtet, weil sie den edlen Damen den Hof gemacht haben.

Beim abgebildeten Tanz handelt es sich um einen Bauerntanz, dass erkennt man daran, dass Bauerntänze von ein oder zwei von der Flötenart Schalmeien oder manchmal auch von Sackpfeifen begleitet werden. Auf dem Bild sieht man den Spielmann, der so eine Flöte spielt.

Der Flötenspieler auf der Wandmalerei

Der Flötenspieler auf der Wandmalerei

Doch das Tanzmotiv ist nur eines von mehreren Motiven auf der Wandzeichnung. Der ganze Hausflur, in dem wir stehen und diese Wohnung da drüben, das war früher ein Saal einer reichen jüdischen Familie. An drei Seiten war der Saal angemalt. Komm, ich zeige dir, was noch von der Wandmalerei aus dem Mittelalter übriggeblieben ist.“

Ich klingle an der Wohnungstür. Eine kleine Frau erscheint am Türrahmen und lächelt uns an. Ich erkläre ihr, dass ich schon einmal bei ihr war und nun einen Freund mitgebracht habe. "Ah, ihr seid wegen der Wandzeichnung gekommen?", fast verschwörerisch zwinkert sie uns zu. "Kommt nur herein!"

Die Wohnungsbesitzerin Silvana Lattmann winkt uns an eine Wand heran. Als wir nähertreten, erkennen wir, dass da ein weiteres Motiv der mittelalterlichen Wandbemalung zu sehen ist.

Erst 1996 hat man die Wandzeichnung per Zufall entdeckt, als das Haus renoviert wurde. In der Nähe der Decke sind verschiedene Wappen von Adelsfamilien zu sehen. In der Mitte des Bildes sind höfische Damen und Herren bei der Falkenjagd abgebildet, eine Beschäftigung, die früher der höfischen Gesellschaft vorbehalten war.

Silvana Lattmann zeigt auf die Reste der Wandmalerei aus dem 14. Jahrhunderts.

Silvana Lattmann zeigt auf die Reste der Wandmalerei aus dem 14. Jahrhunderts.

„Erzähl mir mehr von der Wandmalerei“, bittet mich Ron. "In einem Aufsatz des Germanisten Roland Böhmer habe ich gelesen, dass die Wandzeichnung aus dem Spätmittelalter stammt. Um das Jahr 1330 soll sie entstanden sein. Zu dieser Zeit war es noch nicht wichtig, wer das Bild zeichnet, sondern von wem es in Auftrag gegeben wird. Und in diesem Fall ist es sehr spannend. Es war eine zürcherische jüdische Familie.

Wenn man bei den Wappenzeichen genau hinsieht, entdeckt man hebräische Schriftzeichen zwischen den schwarzen Linien. Die feine Schriftdirekt unter dem gelben Wappen. Siehst du sie, Ron? Die hebräische Schrift ist der einzige Beweis dafür, dass hier einmal eine jüdische Familie gewohnt hat.“

Hebräische Schriftzeichen unter dem Wappenfries

Hebräische Schriftzeichen unter dem Wappenfries

Auf Weg nach Hause in unsere WG, denkt Ron nach. „Ich weiss nun auch, was ich von diesem Tanzmotiv der Wandmalerei übernehmen kann. Die Bauern wirkten selbstbewusst und als hätten sie Spass. Heute Abend werde ich es genauso wie die Bauern machen. Ich werde tanzen, die Party geniessen, selbstbewusst sein und zu Valentina hingehen und sie einfach ansprechen!“

Aufnahmen aus dem Club "Kauz" in Zürich

Aufnahmen aus dem Club "Kauz" in Zürich

Speziellen Dank an die DJane Valentina mit dem Künstlernamen "Baby Val".

Bibliographie:

Berger, Christiane: Techno. Wien 1994 (= V.I.P. music).

Böhmer, Roland: Bogenschütze, Bauerntanz und Falkenjagd. In: Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter. Berlin, New York 2002, S. 229-364.

Brunschwig, Annette/Huser,Karin/Bär, Ulrich: Geschichte der Juden im Kanton Zürich: von den Anfängen bis in die heutige Zeit. Zürich 2005.

Nina Vedova: 9 Dokus über die verrückte Zürcher Technoszene der 90er: In: Noisey (5.10.2017). URL: https://noisey.vice.com/alps/article/gy533q/9-dokus-uber-die-verruckte-zurcher-technoszene-der-90er (30.5.2018).

Nusser, Peter: Deutsche Literatur im Mittelalter. Stuttgart –Kröner Verlag 1992.

Griffiths, Paul: Geschichte der Musik: Vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Stuttgart 2008.

Salmen, Walter: Tanz und Tanzen vom Mittelalter bis zur Renaissance. Zürich 1999 (= Tepsichore, Bd. 3).

Shatzmiller, Joseph: Culturalexchange: Jews, Christians, and art in the medieval marketplace. Princeton, New Jersey 2013 (= Jews, Christians, and Musilims from the ancient to the modern).

Wild, Dölf und Böhmer, Roland: Die spätmittelalterlichen Wandmalereien im Haus «Zum Brunnenhof» in Zürich und ihre jüdischen Auftraggeber. In: Separatdruck aus dem Bericht "Zürcher Denkmalpflege, Stadt Zürich, 1995/96". Zürich 1997, S.14-33.

  • Dieser Beitrag entstand im Seminar Brunngasse 8 und Film (Prof. Dr. Hildegard Keller, Frühlingssemester 2018) am Deutschen Seminar der Universität Zürich.